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ERMTS: Der Zug-Turbo von Alstom Transport

Vincent Passau, Main Line Systems Direktor Alstom Transport Charleroi vor den verschiedenen Zugleitsystemen (Foto: Jürgen Lück)"

Vincent Passau, Main Line Systems Direktor Alstom Transport Charleroi vor den verschiedenen Zugleitsystemen (Foto: Jürgen Lück)"

Charleroi (Belgien)

Vincent Passau von Alstom Transport steht vor vier Kästen. Sie sind groß wie Gefrierschränke und vollgestopft mit Computern und Technik. Auf einem steht „Holland“, auf der nächsten „Frankreich“, dann „Polen“, und ganz rechts kommt „Italien“. Diese mannshohen Schaltzentralen symbolisieren den Irrsinn, der die Bahn von der Autobahn unterscheidet. Denn während man mit dem Lkw einfach auf der Straße über die Grenze fahren kann und sich an den Verkehrsschildern orientiert, braucht jede Lok und jeder Zug pro Land einen solchen Gefrierschrank voller Technik, um sicher über die Gleise zu kommen. Denn jedes Land hat seine eigene Zugleit-Technik, die dem Lokführer die Verkehrszeichen, Tempolimits und Gefahren meldet. Die Folge: Kein Zug kann einfach von London bis Warschau durchfahren, ohne fünf verschiedene gefrierschrankgroße Sicherheitstechnik-Teile an Bord zu haben. Um diesen Irrsinn zu beenden und den Zügen einen Turbo-Schub zu geben, arbeitet Vincent Passau von Alstom Transport fieberhaft mit 450 Ingenieuren und rund 300 Produktionsmitarbietern in einem Belle Epoque Fabrikgebäude in belgischen Charleroi.

Rund einem Kilometer von der Alstom-Fertigung in Charleroi ist die Edition Dupuis zuhause. Der Comic-Verlag, der mit Lucky Luke und Tim und Struppi die ganze Welt erobert hat. Vincent Passau, Main Lines System Direktor von Alstom Transport, hat ähnliche Ambitionen. Denn im Team mit seinen 450 Ingenieuren und rund 350 Produktionssmitarbeitern ist Passau einer der Verantwortlichen, die Alstom Transport zum Marktführer beim Zugleit-System machte, welches den weltweiten Standard setzen wird. Alstoms Zug-Turbo-System heißt übrigens ATLAS ERMTS.

Alstom Transport ist Marktführer beim Zug-Turbo ERMTS

alstomtransport charleroi produktion

Blick in die Produktion von Alstom Transport Charleroi: Hier wird das Zugleitsystem Atlas mit dem ETCS-Standard entwickelt und gebaut (Foto: Jürgen Lück)

„European Rail Traffic Management System“ heißt die Lösung, deren Durchsetzung auch von der EU-Kommission in Brüssel europaweit forciert wird. Klar, denn nur durch eine Beseitigung der technischen Hindernisse kann die Bahn im europäischen Verkehr noch schneller werden.
Vincent Passau stolz: „Wir von Alstom sind der einzige Hersteller auf dem Markt, der die ganze Palette von funktionierenden und einsatzfähigen ERMTS-Systemen anbieten kann.“ Mal eben innerhalb von wenigen Wochen 3 ICEs der Deutschen Bahn mit ERMTS ausrüsten? Kein Problem für die cleveren Belgier.
Die Hochgeschwindigkeitszüge noch mal zu beschleunigen? Auch das hat Vincent Passau mit seinem Team geschafft. Durch den Einsatz des ERMTS-Systems Atlas von Alstom Transport konnte die Fahrt des Eurostar zwischen Rom und Neapel von 105 Minuten auf 85 Minuten verkürzt werden. Passau: „Theoretisch sind auch 66 Minuten drin“.

Alstoms ERMTS macht Italiens Züge 40 Prozent schneller

Alstom Charleroi ETCS im Einsatz in einem belgischen Zug (Foto: Jürgen Lück)

Alstom Charleroi ETCS im Einsatz in einem belgischen Zug (Foto: Jürgen Lück)

Denn das Zugleitsystem ERMTS sorgt nicht nur für die freie Durchfahrt zwischen Rotterdam und Genua, sondern auch für schnellere Züge. Der Grund: Bisher funktionieren die Zugleit-Systeme mit sogenannten „Euro Balisen“. Das entspricht den Induktionsschleifen auf der Autobahn. Die bemerken an den angebrachten Stellen, wann ein Zug vorbeifährt. Doch das neue Zugleitsystem ERMTS funktioniert jetzt mit Handy-Ortung und kann so viel genauer das Tempo und die Bewegungen des Zuges erfassen. Die Beschleunigung und das Abbremsen von Zügen kann so getaktet werden, dass auf den bisherigen Schienen bis zu 25 Prozent mehr Eisenbahnen fahren können. Klartext: Der Einsatz von Alstoms ERMTS ist so, als ob man den dreispurigen Autobahnen noch eine Spur dazu spendieren würde.

Deutschlands Verkehrsminister Peter Ramsauer – bremst er den Zug-Turbo ERMTS aus?

Bundesverkehrsminister Peter Raumsauer (CSU) (Foto: www.peter-raumsauer.de)

Bundesverkehrsminister Peter Raumsauer (CSU) (Foto: http://www.peter-raumsauer.de)

Eine ganz wichtige Voraussetzung, damit in Europa noch mehr schneller Zugverkehr möglich ist. Doch die Politik in Deutschland spielt offenbar auf Zeit. Trotz Drucks der EU-Kommission auf Deutschland und der Unterschrift unter eine Verpflichtungserklärung („Declaration of Rotterdam“, siehe unten) im Juni 2010, den Güterschienen Highway zwischen Emmerich und Weil am Rhein bis 2015 mit ERMTS auszubauen, spielt das Verkehrsministerium von Peter Ramsauer (CSU) offenbar weiter auf Zeit. Während Holland, Schweiz und Italien den Ausbau zwischen Rotterdam und Genua schon präzise geplant und durchfinanziert haben, tritt Ramsauer weiter auf die Bremse.
Sabine Mehwald, Sprecherin des Bundesverkehrsministeriums, bestätigt, dass man in Gesprächen mit der EU-Kommission versuche, bei der 600 Kilometer langen Strecke zwischen Emmerich und Weil am Rhein „die Umsetzung der EU-Kommissions-Entscheidung in mehreren Schritten zu erörtern.“ Grund dafür, so die Sprecherin: „Die Finanzierung der EU-Verpflichtung bereitet – auch angesichts der Finanzkrise – erhebliche Probleme.“

Neuer Zug-Turbo kostet Milliarden Euro

Die Investition würden nach Schätzungen zwischen 700 und 800 Millionen Euro betragen. Die Deutsche Bahn hat die Ausbaupläne für ERMTS schon seit Jahren in der Schublade, verweist aber auf die Politik. Laut Grundgesetz sei die Ausrüstung mit ERMTS von der Bundesregierung zu bezahlen. Bisher sind nur 120 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm des Bundes zwischen Emmerich und Oberhausen sowie Karlsruhe und Weil am Rhein bereitgestellt.
Doch EU-Amtskollegen von Ramsauer und die deutsche Bahnindustrie versuchen, diese Blockade zu beenden. Eine Sprecherin des Niederländischen Verkehrsministeriums: „Wir gehen davon aus, dass Deutschland sich an seine Zusage für den Korridor A hält. Die Niederlande werden alles tun, damit der Zeitplan eingehalten wird.“

ERMTS bringt 25 Prozent mehr Züge auf die Schiene

Ronald_Poerner_Verband der Bahnindustrie

Ronald_Poerner_Verband der Bahnindustrie

Prof. Dr. Ronald Pörner, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Bahnindustrie: „Die Eisenbahn kann nur mit ERMTS gegenüber der Straße konkurrenzfähig sein. In der Schweiz konnte dank ERMTS eine Kapazitätssteigerung um bis zu 25 Prozent erzielt werden. Wenn man an neuralgischen Knotenpunkten zusätzliche signaltechnische Anpassungen vornimmt, ist sogar noch mehr drin. Zudem können durch höhere Geschwindigkeiten und das Vermeiden von unnötigen Bremsvorgängen erhebliche Fahrtzeitgewinne realisiert werden, die den Kunden unmittelbar zu Gute kommen. Ein einheitliches Zugsicherungssystem der Anrainerstaaten des Korridors A ist ebenso wie für die übrigen Schienenverkehrskorridore daher dringend notwendig. Die Bahnindustrie steht bereit, die Bundesregierung in einem nun notwendigen konzertierten Aktionsprogramm kompetent mit Rat und Tat zu unterstützen.“

In Charleroi bleibt Vincent Passau, Main Lines System Direktor für Alstoms ERMTS gelassen: „Die Vorteile des ERMTS-Standards sind so gut und sicher, dass es sich kein Land Europas auf Dauer leisten kann, diese Zukunft zu verschlafen!“ Schade sei nur, dass die Gefahr durch die Verzögerung des Ausbau die Gefahr bestünde, dass der schienengebundene Güterverkehr gegenüber dem LKW ins Hintertreffen geraten könnte.

Die Declaration of Rotterdam, unterzeichnet von Michael Harting, Bundesverkehrsministerium (Quelle: Bundesamt für Verkehr, Schweiz/Montage)

Die Declaration of Rotterdam, unterzeichnet von Michael Harting, Bundesverkehrsministerium (Quelle: Bundesamt für Verkehr, Schweiz/Montage)